Grenzen der Selbständigkeit von Schule

Problemstellung
In den letzten Jahren ist eine breite Diskussion über einen „Paradigmenwechsel“ von Schule und Schulaufsicht aufgekommen, die insbesondere unter den Stichworten „Autonomie oder Eigenverantwortung oder Selbstständigkeit von Schule“ und „Trennung von Beratung und Kontrolle“ im Zusammenhang mit der Funktion der Schulaufsicht geführt wird.[i]
Diese Entwicklung hat zunächst in der Freien Hansestadt Bremen zum Erlass des neu gefassten Bremischen Schulgesetzes geführt, in dem eine strikte Trennung von Beratung durch ein eigenes Beratungssystem und Kontrolle durch die Schulaufsicht bei gleichzeitiger Stärkung der Eigenverantwortung der einzelnen Schule herbeigeführt worden ist.[ii] In der Folgezeit ist auch in anderen Bundesländern diese Diskussion verstärkt fortgesetzt worden, womit in den Schulen erhebliche Erwartungen, aber auch Befürchtungen geweckt worden sind.
Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit eine solche autonome oder selbständige Schule verfassungsrechtlich zulässig ist.
 
Begriffsklärung
Zum besseren Verständnis erscheint es notwendig, zunächst eine Begriffsklärung herbeizuführen.
Der in der schulpolitischen Diskussion häufig verwendete Begriff der „Schulautonomie“ oder ähnlicher Begriffe suggeriert dem unbefangenen Leser, dass damit eine Institution geschaffen werden solle, die „autonom“, d.h. unabhängig von Dritten, sei es sonstigen Entscheidungsträgern, sei es Aufsicht organisiert und betrieben werden könne.
Diese Einschätzung ist jedoch bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen unzutreffend.
Denn bereits aus der Regelung des Art. 7 Abs.1 GG ergibt sich eindeutig, dass nach der geltenden Grundrechtslage das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates steht.
Dies bedeutet, dass ein Verzicht auf Schulaufsicht bereits verfassungsrechtlich ausgeschlossen ist. Dies bedeutet unmittelbar weiter, dass eine autonome, d.h. aufsichtsfreie Schule nach der geltenden Verfassungslage rechts- und verfassungswidrig wäre.[iii]
Die sog. Schulautonomie ist im Übrigen auch wegen der Einbindung der Einzelschule in das Rechtssystem des jeweiligen Schulträgers nicht möglich.
Denn nach dem gültigen Verfassungsverständnis gehört die Schulträgereigenschaft der Gemeinde und/oder des Kreises zum Kernbereich des gemeindlichen Selbstverwaltungsrechts des Art. 28 Abs.2 GG. Daraus folgt, dass die Einzelschule nur in der Rechtsträgerschaft ihres Schulträgers existieren kann, was eine Autonomie ebenfalls ausschließt.[iv]
Bereits hieraus ergibt sich zwingend, dass eine echte Autonomie von Schule auf Grund der verfassungsrechtlichen Ausgangslage undenkbar ist. Die Verwendung dieses Begriffs in der aktuellen Diskussion ist daher bestenfalls als unsauber und mißverständlich zu qualifizieren. Er sollte daher aufgegeben werden.
Denkbar - und offensichtlich auch nur beabsichtigt - ist demgegenüber eine Steigerung der schulischen Eigenverantwortung innerhalb des bestehenden Systems von Schulaufsicht und Schulträger.
Hierzu sind unterschiedliche Wege denkbar und werden z.T. auch schon praktiziert.
Zum einen ist eine Erhöhung schulischer Eigenverantwortung möglich durch Erhöhung der Entscheidungskompetenz der Einzelschule, indem Zuständigkeiten für verschiedene Einzelmaßnahmen von der Schulaufsicht oder dem Schulträger auf die Schule, d.h. konkret in der Regel auf den Schulleiter verlagert werden. Hierzu können z.B. Schullaufbahnentscheidungen wie die Zurückstellung o.ä. genauso gerechnet werden wie dienstrechtliche Zuständigkeiten durch Verlagerung von Teilen der Dienstvorgesetztenfunktion von der Schulaufsicht auf den Schulleiter.[v]
Zum anderen kann eine Erweiterung der Selbstverwaltungskompetenz der Einzelschule erreicht werden durch Verleihung einer Berechtigung zum Abschluss von Verträgen, mit denen die Einzelschule z.B. Vertretungslehrkräfte oder sonstiges Personal im Bereich des freiwilligen Unterrichtsangebots einstellen könnte.
Hierzu werden unter den Begriffen „Öffnung von Schule“ oder „Schulprofilbildung“ bereits unterschiedliche Modelle diskutiert und erprobt.[vi]
Eine weitere Vergrößerung der Selbstverwaltung der Einzelschule ist darüber hinaus erreichbar durch eine Erhöhung ihres finanziellen Entscheidungsrahmens.
Hierzu gehört in erster Linie die Zurverfügungstellung eines Finanzrahmens, den die Einzelschule nach eigenen Prioritäten verwalten kann, ohne dabei an die klassischen haushaltsrechtlichen Titelvorgaben des Landes- oder Schulträgerhaushaltes gebunden zu sein.
Entsprechende Modelle werden im Bereich einzelner Schulträger unter dem Stichwort „Budgetierung“ für die von ihnen zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel bereits praktiziert.[vii] Parallele Modelle aus dem Landeshaus-halt sind in einzelnen Ländern bereits in der Erprobung.[viii]
Durch derartige Maßnahmen kann eine deutliche Erweiterung des Handlungsrahmens der einzelnen Schule erzielt werden, mit anderen Worten ihre Kompetenz zu eigenverantwortlicher Erledigung ihrer Aufgaben deutlich erhöht werden.
Damit ergibt sich jedoch - wie eingangs dargestellt - keine Unabhängigkeit gegenüber den Rechtssystemen, in die jede Einzelschule eingebunden ist, also gerade keine Autonomie.
Schulleiter / Schule
Vorstehend wurde lediglich dargestellt, daß der einzelnen Schule zusätzliche Entscheidungskompetenzen übertragen werden sollen, ohne aber darauf einzugehen, von welchen Entscheidungsträgern innerhalb der Schule diese zusätzlichen Kompetenzen letztlich tatsächlich erledigt werden sollen.
Während bislang - nach traditioneller Auffassung fast zwangsläufig - davon ausgegangen werden konnte, daß alle entscheidungserheblichen Kompetenzen der Einzelschule bei ihrem Schulleiter zusammenliefen,[ix] gewinnt in der jüngeren Diskussion unter dem Stichwort „Demokratisierung von Schule“ eine Tendenz immer mehr an Bedeutung, die an die Stelle der Zuständigkeit des Schulleiters eher die eines schulischen Wahlgremiums treten lassen will. Hierbei wird im Wesentlichen an die Übertragung von Entscheidungsrechten an ein  gegebenenfalls sogar paritätisch zwischen Schülern Eltern und Lehrern gewähltes Gremium, das meist Schulkonferenz genannt wird, gedacht.[x]
In den Schulgesetzen der einzelnen Bundesländer sind die Kompetenzen der Schulkonferenz als oberstem schulischem Entscheidungsorgan  sowohl bezüglich der ihr zugewiesenen Inhalte als auch des Umfangs ihrer Entscheidungskompetenzen höchst unterschiedlich geregelt.
Bezüglich ihrer Entscheidungskompetenz liegt die Bandbreite zwischen Informations-, Anhörungs-, Vorschlags-, Grundsatz- und Letztentscheidungsrechten.[xi]
Meist wird in der schulpolitischen Diskussion die Übertragung zusätzlicher Kompetenzen an derartige Gremien mit der Notwendigkeit begründet, Schüler und Eltern verstärkt in die schulischen Entscheidungen einzubinden, um so eine stärkere Identifikation dieser Gruppen mit „ihrer“ Schule herbeiführen zu können.
Fraglich ist bei dieser - im Grundsatz begrüßenswerten  - Tendenz, inwieweit diese insbesondere unter dem Stichwort „Demokratisierung von Schule“ rechtlich legitimiert ist.
Hierzu ist zunächst festzustellen, dass nach dem Demokratieprinzip des Art. 20 GG nur dann die demokratische Legitimation einer Entscheidung gegeben ist, wenn eine ununterbrochene Legitimationskette zum Volk als Souverän vorliegt.[xii]
Hieran fehlt es jedoch bei allen innerschulischen Gremien, denn diese beziehen ihre demokratische Legitimation nur von ihren schulinternen Mitgliedern, nicht aber vom Volk als ganzem.
Daher sollte besser von Partizipation im Rahmen des erweiterten Rechts auf Verwaltung der eigenen schulischen Angelegenheiten gesprochen werden. Diese kann und soll dazu dienen, die schulischen Entscheidungsprozesse durch Einbeziehung des Sachverstandes der betroffenen Personengruppen zu optimieren und eigenverantwortliche Interessenausgleiche zwischen den Beteiligten innerhalb der Schule herbeizuführen.
Letztlich kann die Beteiligung von Schülern, Eltern und Lehrern an der Entscheidungsfindung auch dazu dienen, den Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Grundrechtsträgereigenschaften (für Schüler insb. Art. 2/12 GG; für Eltern insb. Art. 6 GG; für Lehrer insb. Art. 4/5 GG) innerhalb der Schule zu erleichtern.
Zur Sicherstellung des Demokratieprinzips bei derartigen Partizipationsmodellen wie Schulkonferenz o.ä. ist nicht nur die Bestellung dieses Gremiums nach demokratischen Grundsätzen (d.h. entsprechenden Wahlen) und eine gesetzliche Regelungsgrundlage erforderlich, sondern insbesondere auch eine Rückbindung an die staatliche Verantwortung, indem ein rechtsstaatlich wirksames Kontrollorgan vorhanden ist. Denn Kontrolle stellt ein  verfassungsrechtlich notwendiges Korrelat von Verantwortung nach dem Demokratieprinzip dar.[xiii]
Dies bedeutet, dass alle Entscheidungen der Schulkonferenz, nicht aber bloße Anregungs- und Anhörungsbeteiligungen einer Kontrolle durch die ihrerseits demokratisch legitimierte Verwaltung, d.h. der Schulaufsicht unterworfen sein müssen.
Dies ergibt sich im Übrigen auch aus folgenden Überlegungen:
Eine eigene Rechtsträgerschaft der Einzelschule als selbständige Anstalt des öffentlichen Rechts ist - wie dargestellt - ausgeschlossen, da die Schulträgereigenschaft der Kommunen zum Kernbereich des kommunalen Selbstverwaltungsrechts gehört. Daraus folgt, dass die Einzelschule nur nicht-rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts sein kann.[xiv]
Außerdem würde eine Freistellung von Kontrollbefugnissen im Ergebnis zur Folge haben, dass die Schulkonferenz in der Lage wäre, haushaltswirksame Entscheidungen zum Nachteil des jeweiligen Schulträgers oder Landes zu treffen, ohne daß dieser hierauf Einfluss nehmen könnte.
Um ein derartiges Kontroll- oder Letztverantwortungsrecht des Staates gegenüber Entscheidungen der Schulkonferenz sicherzustellen, ist eine Ersetzungsbefugnis bei Entscheidungen, die entweder pädagogisch oder haushalts- oder allgemeinrechtlich bedenklich sind, erforderlich.
Diese kann durch ein Vetorecht des Schulleiters oder eine Eintritts- oder Aufhebungsbefugnis der Schulaufsicht geregelt werden.[xv]
Durch beide Maßnahmen kann sichergestellt werden, dass die Schulkonferenz keine Beschlüsse faßt, die mit zwingenden rechtlichen, haushaltsmäßigen oder pädagogischen Vorgaben unvereinbar sind.
Bestünde eine solche Möglichkeit nicht, könnte gegebenenfalls der Schulleiter durch die Schulkonferenz verpflichtet werden, Beschlüsse auszuführen, für die er gegenüber seinem Dienstherrn oder dem Schulträger dienstrechtlich verantwortlich wäre, auch wenn er selbst diese nicht beschlossen hätte.
Auch hieraus wird deutlich, daß eine systemunabhängige Schule rechtlich nicht zulässig ist.
Dies würde erst recht gelten, wenn an der Einzelschule eine drittelparitätische Entscheidungskompetenz zwischen Schülern, Eltern und Lehrern eingeführt würde.
Denn mit einer solchen Regelung könnte die den Lehrern gemäß Art. 7 Abs.1 GG obliegende staatliche Erziehungskompetenz mehrheitlich unterlaufen werden.
Für diese Bereiche erscheint daher eine drittelparitätische Schulkonferenzkompetenz daher verfassungsrechtlich bedenklich; in anderen Bereichen, z.B. bei Beschlüssen über außerunterrichtliche Veranstaltungen oder besonderen Förderkonzepten ist dies jedoch möglich.[xvi]
Schlussbemerkung
Insgesamt ist daher festzustellen, dass jede Form veränderter oder erweiterter Verantwortung von Schule sich vorrangig an den Bedingungen des Demokratieprinzips orientieren muss, was bedeutet, dass die schulische „Selbstverwaltung“ – anders als die verfassungsrechtlich geschützte kommunale Selbstverwaltung – weder verfassungsrechtlich garantiert ist noch tatsächlich eingeräumt werden kann. Daher sollte weder von autonomer noch von selbständiger Schule, sondern nur vor selbständigerer Schule gesprochen werden.
Für die Schulaufsicht wird dies jedoch bedeuten, dass sich ihre Aufgabenstellung dahin verändern muss, dass sie künftig zum einen verstärkte Beratungsaufgaben gegenüber den Schulen bei der Wahrnehmung ihrer erweiterten Selbstverantwortung wahrzunehmen haben wird und zum anderen – z.B. beim Abschluss von Verträgen, die von den Schulen gewünscht werden – als Serviceeinrichtung für die Schulen in Erscheinung treten wird, ohne dass ihre klassische Aufsichtsfunktion aufgegeben wird.
Wiesbaden, den 2. Oktober 2005
 
 
Anmerkungen
 
[i] vgl. z.B. Bleienstein in KSD Info I,1997
[ii] vom 20.12.1994 (GVBL.S.327 ff) und das SchulverwaltungsG vom 20.12.1994 (GVBl S. 327 ff); vgl. dort insb. §§ 11/12 zur Schulaufsicht und die §§ 13 - 15 zur Beratung
[iii] Avenarius, Schulrechtskunde Kap. 15 m.w.Nw.
[iv] Maunz-Dürig-Herzog RdNr. 60ff zu Art 28 GG
[v] so vorgesehen in § 88 Abs. Satz 4 HessSchG i.V.m. § 16a DO
[vi] vgl. z.B. die Modelle „Bildungsregion“ oder „Selbstverantwortung plus“ in Hessen, nach denen die Schulen mindestens Betreuungskräfte aus dem ihnen zugewiesenen Budget selbst einstellen können
[vii] seit 1995 im Bereich des Wetteraukreises und seit 1996 in Frankfurt; vgl. hierzu Krumm, SchulVerw HE 1/97 S.14
[viii] vgl. hierzu die sog. Bildungsregionen in Hessen, in denen wesentliche Teile der kommunalen Haushalte und des Landeshaushalts den Schulen zur eigenverantwortlichen Verwaltung und Entscheidung übertragen worden sind
[ix] vgl. z.B. die klassischen Kompetenznormen der § 42 SächsSchG oder § 33 ThürSchG
[x] vgl. z.B. § 76 MV SchG
[xi] vgl. z.B. 43 SächsSchG; § 38 ThürSchG
[xii] vgl. ausführlich Meyer, Kontrolle als Verfassungsprinzip 1982, S.355 f, s.a. die Rspr der Verfassungsgerichte zu den Grenzen des Personalvertretungsrechts
[xiii] vgl. auch hierzu Anm.12
[xiv] so in allen Schulgesetzen geregelt, vgl. z.B. § 32 Abs. 1 Satz 1 SächsSchG oder § 13 Abs.1 Satz 2 ThürSchG
[xv] so z.B. in § 44 Abs.2 SächsSchG und § 37 Abs.5 ThürSchG
[xvi] vgl. z.B. § 77 Abs.1 Nr.7 MV SchG; § 5 Abs.2 Nr.4 SchMG NRW

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